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Stefan Schwarz

Think Smaller.






Drei Fragen, die man sich stellen sollte, bevor man sich für ein großes Projekt entscheidet.









Pjotr Paltschinski, geboren 1875, war ein russischer Ingenieur. Sein Leben lang vertrat er seine wissenschaftliche Denke, ohne Rücksicht auf die Wünsche der Machthaber zu nehmen. Und sein Leben lang machte er sich damit unbeliebt: Schon vor der Revolution war er im Exil, danach mehrfach in Haft - aber in den Zeiten dazwischen immer wieder in maßgeblichen Positionen am Aufbau der Industrie in der Sowjetunion beteiligt. (1)


Kern der Dissonanzen zwischen ihm und der Politik: Die Bolschewiken unter Stalin planten Projekte so gigantisch wie nur irgend möglich. Schließlich wollten sie die ganze Welt mit der Größe Russlands (und ihrer eigenen) beeindrucken. Paltschinski stellte sich gegen solche zentral geplanten Vorhaben - er wollte die Voraussetzungen vor Ort und die Belange der Arbeiter und Bürger berücksichtigen.


Auch als Stalin den größten Staudamm der Welt am Dnjepr bauen wollte, um ein gigantisches Elektrizitätswerk zu betreiben, hielt er dagegen. Seine Argumente:


Niemand hatte genau erforscht, wie groß der Stausee werden würde – er könnte ein riesiges Areal mit Tausenden von Häusern fluten. Niemand wusste, wie man ein so großes Vorhaben umsetzen könnte. Und niemand hatte berücksichtigt, daß es während der trockenen Sommermonate nicht genug Wasser geben würde und man daher ohnehin für mehrere Monate im Jahr ersatzweise Kohlekraftwerke betreiben musste.

Paltschinskis Alternativvorschlag: Erstmal einen kleineren Damm und dazu ein kleineres Kohlekraftwerk realisieren. Daraus für die nächsten Male lernen. Und dann Schritt für Schritt weitere Staudämme und Wasserkraftwerke anlegen.


Die Denkweise dahinter hat als “Palchinsky Principles” Einzug in die Literatur gefunden - unter anderem in Tim Harfords schon etwas in die Jahre gekommenen, aber streckenweise immer noch sehr lesenswerten Buch “Adapt”. (2)


Die drei Prinzipien (3):


Schritt 1: Variation.

Setze statt einem großen mehrere kleine Projekte um. Achte dabei darauf, möglichst unterschiedliche Ansätze zu verfolgen.



Schritt 2: Überlebensfähigkeit

Mache jedes der Projekte so klein wie möglich. Stelle sicher, daß jedes ohne fatale Folgen scheitern kann.



Schritt 3: Selektion



Beobachte die Projekte so sachlich und genau wie möglich. Ziehe daraus die richtigen Schlüsse, stoppe Flops, baue Erfolgreiches aus.



Man könnte also sagen: Die Grundlagen von agilem Management wurden schon vor rund 90 Jahren gelegt. (Umso erstaunlicher, daß sich die meisten Entscheider:innen und Unternehmen damit heute noch so so schwer tun wie damals die Sowjetunion.)


Apropos “Überlebensfähigkeit”: Paltschinski hat seine unbeirrte Kritik an den Großprojekten seiner Zeit nicht überlebt. Schon 1929, noch während des Baus des Staudamms, wurde er wegen “Verschwörung” festgenommen, zum Tode verurteilt und erschossen.


Denn natürlich wurde der Riesen-Damm gebaut – Stalin wollte nun mal unbedingt das Großprojekt realisieren. Bei Fertigstellung 1932 war es der drittgrößte Staudamm der Welt.


Er erwies sich als Desaster: Tatsächlich flutete er eine immense Fläche fruchtbaren Landes. Schon 9 Jahre später, 1941, wurde er von der russischen Armee beim Rückzug vor den Deutschen gesprengt - durch die Flutwelle ertranken zwischen 20 000 und 100 000 Zivilisten (4). Die Nazis reparierten ihn – um ihn beim Rückzug 1943 nun ihrerseits zu sprengen. Nach dem Krieg wurde er ein drittes Mal aufgebaut.


Da die Wassermengen tatsächlich über die Sommermonate nie ausreichten, um genügend Strom zu produzieren, mussten direkt daneben Kraftwerke errichtet werden. Eines davon: Das Kernkraftwerk Saporischschja, das bis heute das größte Kernkraftwerk Europas ist. (Die Liebe zu Großprojekten ist der Sowjetunion geblieben.)


Damm und Kraftwerk liegen heute in der Ukraine, nahe der Frontlinie, und ja: Saporischschja ist das Kernkraftwerk, das letztes Jahr von Russland angegriffen und eingenommen wurde. Die internationale Atomenergie-Kommission IAEA hält die Zustände dort für “unhaltbar” (5), und Putin droht weiter mit Bombardierung.


Nun haben Business-Entscheidungen selten die Dimension, daß sie beim Scheitern zehntausende Menschenleben kosten oder ganz Europa vor einer Atomkatastrophe zittern lassen. Aber der potentielle Schaden ist dennoch häufig viel schwerwiegender und langfristiger, als man sich das vielleicht zunächst vorstellen mag.


Wenn daher das nächste Mal jemand der Meinung ist, man müsse jetzt mal “groß denken”: Einfach mal die drei Fragen stellen, die Paltschinski stellen würde:


• Kann man statt dem einen großen Projekt mehrere unterschiedliche realisieren?


• Kann man die Projekte so klein halten, daß ein Scheitern keine fatalen Konsequenzen haben kann?


• Kann man exakt analysieren, was wie erfolgreich ist - und die richtigen Schlüsse ziehen?


Keine Angst: Damit macht man sich nicht unbedingt beliebt.


Aber hingerichtet wird man auch nicht.



 

(1)

Biographie zu Paltschinski: Graham, Loren R. 1993. The Ghost of the Executed Engineer. Harvard University Press.


(2) Harford, Tim. 2011. Adapt. Why success aways starts with failure. Farrar Straus & Giroux, Link



(3) Timothy Bosworth. 2018. Peter Palchinsky’s 3 Principles. Link


(4) Bigg, Claire; Moroz, Dmytro. 2013. Ukrainian Activists Draw Attention To Little-Known WWII Tragedy. Radio Free Europe/Radio Liberty. Link


(5)

“Ich bin extrem besorgt über die sehr realen Sicherheitsrisiken": IAEA-Chef Grossi über die Lage am AKW Saporischschja.

aus: SZ vom 6.5.2023 Link


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