Wann muss ich entscheiden?

Wie das Tool Cynefin aufzeigt,
welche Entscheidungen
entscheidend sind.
Disclaimer: Ich schildere hier, wie ich Cynefin praktisch in meiner Arbeit als Entscheidungshelfer für Unternehmer:innen nutze. Der Artikel spiegelt daher meine Interpretation, nicht zu 100% die “reine Lehre”. Alle Cynefin-Superexpert:innen mögen mir das verzeihen.
Das Cynefin-Modell (gesprochen KUH-ne-fin, der Name ist walisisch und steht für “Ort, an dem man sich befindet”) wird seit über 20 Jahren von dem Consultant Dave Snowden weiterentwickelt. Wer nach ihm googelt, findet daher unzählige Versionen. Ich halte mich an die beiden aktuellsten.
Wie alle eingängigen Modelle kennt Cynefin vier Quadranten - die haben es aber in sich.
Fangen wir mal rechts unten an:
Der erste Zustand: CLEAR.

CLEAR beschreibt eine Aufgabe, zu der es eine Best Practice gibt. Eine klare Lösung, die allgemein bekannt ist. Beispiel: Die Umsatzsteuervoranmeldung machen.
Hier muss man nicht erst zu großen Analysen ausholen - man kann einfach loslegen.
Das klingt trivial. Aber alleine mit dieser Einsicht ließe sich sicher die Hälfte aller Calls und Meetings sparen. Nämlich die, in der sich alle darüber austauschen, welche bekannten Tasks sie als letztes erledigt haben und welche sie als nächstes angehen werden. (Ich war auch schon Teil von Projekten, wo das eher 80% der "Arbeitszeit" einnahm.) Was für eine Verschwendung von Lebenszeit und Ressourcen. Statt darüber zu reden, könnte man’s auch einfach machen.
In Snowdens Worten: sense - categorize - respond. Problem erkennen, zuordnen, lösen.
Der zweite Zustand: COMPLICATED.

Hier sprechen wir über eine Aufgabe, bei der es noch keine Best Practice gibt, aber zumindest eine Good Practice. Hier kann und muss Neues entwickelt werden. Beispiel: Eine Rakete bauen, die nicht nur (wie bisher) abhebt, sondern auch zur Startrampe zurückkehren kann.
Das ist das Feld des klassischen Wasserfall-Prozederes: Erst Aufgabe und Unteraufgaben definieren, Timings und Budget aufsetzen. Dann gründlich analysieren und umfassend diskutieren. Dann verbindlich entschieden. Und zuletzt so schnell wie möglich nach Plan umsetzen.
In den Worten Snowdens: sense - analyze - respond.
Es geht noch schwieriger, oben links:
Der dritte Zustand: COMPLEX.

Bei Aufgaben, die COMPLEX sind, gibt es nicht den einen guten Weg. Sondern mehrere mögliche. Welcher am besten funktioniert, lässt sich erst im Nachhinein erkennen. Es gibt also keine “Best” oder auch nur “Good Practice”, sondern nur eine “Emergent Practice”.
Oft sind das Aufgaben, die mit Ökosystemen oder sozialem und kulturellem Verhalten zu tun haben. Beispiel: Ein soziales Netzwerk moderieren.
Die richtige Vorgehensweise in den Worten Snowdens ist hier: probe - sense - respond.
Anders gesagt: Das ist die Domäne von agilem Arbeiten.
(Genauer: Während jedes einzelnen Sprints ist man im Bereich COMPLEX, in der Nachbetrachtung und der Planung des nächsten springt man in COMPLICATED - ad infinitum.)
Eines der gefährlichsten Missverständnisse ist aus meiner Sicht, COMPLICATED und COMPLEX zu verwechseln:
Wer eine COMPLEX-Aufgabe mit klassischer Wasserfall-/Ingenieurs-Logik angeht, wird scheitern. So wie beispielsweise der beste Raketenbauer der Welt beim Versuch, Twitter/X erfolgreich wirtschaftlich zu führen.
Genauso fatal ist es, wenn man , wenn man eine Aufgabe, die COMPLICATED ist, agil angeht. Grossbauprojekte wie ein Hauptstadtflughafen z.B. scheitern nicht an zu wenig, sondern an zu viel Agilität: Pläne werden noch in der Bauphase ständig modifiziert, bis am Schluss keiner mehr weiß, wo welcher Rauchabzug wie zu bedienen ist.
Last not least - unten links:
Der vierte Zustand: CHAOTIC.

In einem Umfeld, das CHAOTIC ist, gibt es gar keine Erfahrungen, weil sich die Aufgabe systembedingt so noch nie gestellt hat. Snowden nennt das Emerging Practice. Beispiel: Ein neues Virus verbreitet sich von Wuhan aus über die Welt.
Auch hier kommt man mit klassischen Entscheidungs-Strukturen nicht weiter - es gibt gar keine Datenpunkte, die man analysieren könnte, und man hätte auch gar keine Zeit dazu.
Dave Snowdens Handlungsanweisung: act-sense-respond.
Weniger vornehm ausgedrückt: Alles, was zur Hand ist, an die Wand werfen - und sehen, was hängenbleibt.
Insofern war die staatliche Reaktion auf Corona die einzig richtige: Solange man nicht weiß, wie genau sich das Virus verbreitet, muss man versuchen, alle möglichen Wege zu minimieren. Daher: Händewaschen, Versammlungsverbote, Masken, Kitas schließen …. Dass sich dann im Nachhinein manches davon als entbehrlich erweist, ist das kleinere Übel. Die Kollateralschäden, die dadurch entstehen, muss man in Kauf nehmen, solange man nicht ermessen kann, was der “Worst Case” sonst bedeuten würde.
Einen Zustand haben wir vergessen - er steht in der Mitte:
Der unreflektierte Zustand: CONFUSED.

CONFUSED steht dafür, dass die Wenigsten reflektieren, welche Aufgabe sie gerade vor der Brust haben. Deswegen handeln sie nicht bewusst, wie der geneigte Leser ab morgen. Sondern unbewusst: Sie schalten in ihren “Default Mode”. Getreu dem Sprichwort: Wer nur einen Hammer hat, für den ist jedes Problem ein Nagel.
Was dieser Default Mode ist, hat - meine Interpretation - mit Persönlichkeitsstruktur und Berufsfeld zu tun:
Wer gerne alles klar geregelt hat und einfach wissen möchte, was zu tun ist, ohne sich ständig neue Gedanken machen zu müssen, behandeln alle Aufgaben, als wären sie CLEAR. Mal klischeehaft formuliert (ich weiß, gibt ganz viele Ausnahmen): Beamte, Steuerberaterinnen, Finanzer …
Wer Freude an komplizierten Dingen hat, behandelt jede Aufgabe, als wäre sie COMPLICATED. Das Klischee würde sagen: Ingenieurinnen, Wissenschaftler, Projektmanagerinnen…
Wer gerne im "Flow" arbeitet (und dabei oft eine hohe Sozialkompetenz hat), behandelt alle Aufgaben, als wären sie COMPLEX. Ist also vielleicht eher Personalerin, Trainer, Coach …
Und dann gibt es die, die Prozesse und Strukturen schon aus Prinzip mit Misstrauen begegnen: CHAOTIC ist der Zustand für Kreative und Künstlerinnen.
Drei Konsequenzen, die ich sehe:

1)
In unserer sich immer schneller drehenden und immer instabileren VUCA -Welt wechseln Zustände zunehmend gegen den Uhrzeigersinn: Was noch CLEAR erscheint, ist schon COMPLICATED, was man immer als COMPLICATED gesehen hat, ist womöglich schon COMPLEX, was noch als COMPLEX gilt, ist vielleicht schon CHAOTIC.
2)
Gerade in Deutschland tendieren Unternehmens-Kulturen gerne so, als wäre alles in den “geregelten” Zuständen der rechten Seite (CLEAR & COMPLICATED) - agiles Vorgehen, wie es für COMPLEX angezeigt wäre, oder sofortiges Handeln, wie es CHAOTIC fordert, liegen uns kulturell gar nicht. Was daranb liegen mag, daß im C-Level unserer Unternehmen die Fachebene (also Menschen von einer TU) und die Finanzer die Meinungsführer sind.
3)
In den meisten Fällen ist schnelles Handeln besser als langes Grübeln: Nur bei “COMPLICATED”, einem der 4 Zustände, sind wirklich lange vorab analysierte und durchgeplante “große” Entscheidungen angeraten. Und das sage ich als Entscheidungshelfer.